Von Hanau nach Laichingen – der unaufgeklärte Mord an Muhittin Levent

Am Sonntag den 18.02.2024 fand eine Gedenkkundgebung für die Opfer des Anschlags in Hanau 2020 statt. Es nahmen circa 100 Personen teil. Wir haben einen Redebeitrag gehalten, der die Brücke von Hanau nach Laichingen bei Ulm schlägt und einen dort vergessenen Mord an den kurdischen Blumenhändler Muhittin Levent thematisiert.

Hier eine ausführlichere Version des Redebeitrags:

Say their names – Hanau ist überall

Am 19. Februar jährt sich der rassistische Anschlag in Hanau zum 4. Mal. Wir gedenken Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Die Angehörigen und Überlebende des Anschlags kämpfen bis heute um die lückenlose Aufklärung der Geschehnisse der Tatnacht und der Tage danach. Es geht dabei unter anderem um verschlossene Noteingänge, die Waffenerlaubnis für den Täter obwohl dieser polizeilich bekannt war, der unerreichbare Notruf und SEK Beamte, die in extrem rechten Chatgruppen waren. Es geht auch um den Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und darum dass der schwerverletzte Überlebende Etris Hashemi zuerst mehrmals nach seinem Ausweis gefragt wurde statt erste Hilfe zu leisten. Die Initiative 19. Februar beschreibt die Tatnacht geprägt davon, dass die Opfer des rassistischen Terroranschlags nicht wie Opfer, sondern wie Tatverdächtige behandelt wurden.

Das kommt uns bekannt vor. Es erinnert an Berichte von Angehörigen der Opfer des National- Sozialistischen Untergrunds. Eben jener NSU, der mindestens 13 Jahre lang unentdeckt von Polizei, mordend durch die Bundesrepublik zog. Auch hier, wurden zuerst Angehörigen und das Umfeld der Betroffenen verantwortlich gemacht. Die Ermittlung und Berichterstattung waren von rassistischen Bildern geprägt. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss und NSU- Prozess zeigte breites Versagen auf allen Ebenen, von Polizei über Verfassungsschutz bis zu den Medien. Das zeigt uns, dass es sich hier nicht um Einzelfälle und Ermittlungspannen handelt, sondern um strukturelle Probleme, die nicht ausreichend aufgearbeitet werden.

Die Amadeu Antonio Stiftung zählt seit 1990 mindestens 219 Todesopfer rechter Gewalt. Die Bundesregierung zählt in derselben Zeit offiziell 113 rechte Morde. Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit um ein Vielfaches größer. Rassismus und rechte Ideologie als Tatmotiv bleibt oft ungeprüft. Es zeigt sich wieder und wieder das die Ermittlungsbehörden auf dem rechten Auge blind ist und Teil des Problems ist. Im Rahmen des parlamentarischen NSU Untersuchungsausschuss wurden nach einem sogenannten „Opferindikatoren- Katalog“ 3300 ungeklärte Tötungsdelikte ausgewählt, die erneut eingehend auf ein potentielles rechtes Tatmotiv untersucht wurden. Nach einer ersten Überprüfung wurden 2014 745 Taten zur genaueren Einzelfallbetrachtung an die jeweils zuständigen Polizeidienststellen weitergegeben. Verbindungen zum NSU ergaben sich bis 2017 nicht.

Einer von diesen ungeklärten Morden, der im Rahmen des Untersuchungsausschusses neu geprüft wurde, ist der Mord an Muhittin Levent. Am 04.10.2011 wurde der kurdische Blumenhändler in Laichingen, 30 Minuten von Ulm entfernt, erschossen. Die Tat ereignete sich weniger als einen Monat vor der Selbstenttarnung des NSU. Die Tatwaffe war eine Ceska- Pistole. Der NSU nutze eine Pistole des gleichen Herstellers als Tatwaffe. Der NSU Untersuchungsausschuss kam zu dem Schluss, dass es sich hier nicht um einen Mord durch den NSU handelt. Die Begründung? Ein abweichender Tatvorgang.

Unerwähnt im Ausschuss blieb, dass die Lokalpresse schon drei Tage nach der Tat erklärte, dass ein politisches Motiv hinter dem Mord ausgeschlossen werde und im persönlichen Umfeld des Blumenhändlers ermittelt werde. Die zweite Überprüfung des Tatmotives fand nach der Selbstenttarnung des NSU statt und dauerte 7 Tagen. Das heißt insgesamt prüfte die Polizei keine 10 Tage die Tathypothese eines politisch motivierten Mordes von Rechts. Auch der NSU Untersuchungsausschuss bezweifelte die Intensität der Prüfung durch die Polizei. Es wurde stattdessen, wie sollte es auch anders sein, das persönliche Umfeld des Toten beschuldigt.

Doch so klar scheint das Bild nicht zu sein. Der ermordete Levent hatte über Dritte Kontakt zu dem Blumenhändler Enver Şimşek. Enver Şimşek ist das erste bekannte Opfer des NSU und wurde im September 2000 in Nürnberg ermordet. Die Abfrage von Funkzellendaten identifizierte 99 Nummern, die auch aus den NSU Ermittlungen bekannt waren. Eine Nummer tauchte im Oktober 2011 vor der Selbstenttarnung des NSU in der Zwickauer Frühlingsstraße auf. In eben jener Straße lag die Wohnung der NSU Mitglieder. Auch erschien die Nummer im Zusammenhang mit dem Kölner Nagelbombenattentat 2004.

Der Mord ist bis heute ungeklärt. Auch Laien fallen diverse Ungereimtheiten und Informationslücken auf. Es ist unbekannt, wo die Mitglieder und Umfeld des NSU sich zur Tatzeit aufhielten. Die Grundannahme der NSU hat zu dritt gehandelt ist hier die offensichtliche Schwäche. Dementsprechend wurde die Möglichkeit einer Nachahmungstat der NSU Morde aus ihrem Unterstützungskreis oder von dritten gar nicht betrachtet. Wir wollen hier nicht behaupten, dass der Mord in Laichingen ein Mord durch den NSU oder sein Umfeld war. Das wissen wir nicht. Was wir aber wissen ist, dass in den wenigstens Fällen eine rechtes oder rassistisches Motiv sicher ausgeschlossen werden kann, gleichzeitig blicken die Ermittlungen oft nicht in die Richtung. Zweifellos weicht der Tatvorgang in Laichingen von dem einiger NSU Morde ab. Doch es ist erschreckend, wie eng eingeschränkt die Ermittlung waren und wieviele Parallelen und Unklarheiten nicht thematisiert und untersucht wurden.

Hanau, NSU und min. 219 Fälle seit 1990 zeigen uns: Nazis morden. Immer und immer wieder. Und immer und immer wieder sind Polizei, Politik und die deutsche Öffentlichkeit kurz entsetzt, bis zur nächsten Tat. Polizeibehörden waren jahrelang unfähig von ihren Hypothesen abzuweichen und suchten ausschließlich im Umfeld der Betroffenen. Dabei wurden Angehörige wie der letzte Dreck behandeln, belogen und versucht zu Informationen auszupressen. Diese Unfähigkeit ist erkennbar in den Ermittlungen rund um den NSU, den Umgang mit Angehörigen und Betroffenen des Anschlags in Hanau und teilweise auch hier bei den Ermittlungen in Laichingen. Die strukturellen Probleme in Ermittlungsbehörden werden nicht adressiert und geschehen immer und immer wieder.

Offensichtlich können wir dem Staat nicht vertrauen, wenn es um die Aufklärung und Verhinderung von Morden durch Nazis geht.

Deshalb: hört auf Betroffene, seid laut und unbequem.
Fordert die lückenlose Aufklärung der Geschehnisse und Freigabe der Akten.
Lasst nicht zu, dass die Opfer vergessen werden.
Erinnern heißt Kämpfen. Erinnern heißt Veränderung.


Quellen

Mehr zum Mord in Laichingen und den anschließenden Ermittlungen findet sich hier: